In Sabihas Leben gab es kaum Selbstbestimmung. Sie wuchs als türkisches Mädchen in Westberlin der 1980 Jahren auf. Ein Messerangriff auf ihre Tochter lenkt die Aufmerksamkeit der Polizei auf ihre Familie und ihre Geschichte.
Die junge Staatsanwältin Frida trifft bei ihren Ermittlungen auf schweigende Angehörige. Sie beginnt in den Akten zu wühlen, in den Hintergründen zu forschen und ihre gesamte Zeit auf diesen Fall zu konzentrieren. Dabei stößt sie immer wieder auf die unterschiedlichen Auffassungen von Freiheit und Gleichberechtigung.
»In Deutschland versucht laut Statistik täglich ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten, und an jedem dritten Tag gelingt es. Doch in der Regel erfahren diese Fälle nur eine geringe mediale Aufmerksamkeit – ganz im Gegenteil zu den sogenannten „Ehrenmorden“. Dabei gründen die Taten auf vergleichbarer Motivlage: männliches Besitzdenken, Eifersucht, verletztes Ehrgefühl. Kurz gesagt: auf dem Patriarchat.«
Wichtiges Thema, sehr interessant angegangen
Die Familiengeschichte ist so in die Handlung um den Messerangriff eingepflochten, dass man ein richtiges Gefühl für die Ansichten und Denkmuster bekam. Dass man die Hilflosigkeit von Sabiha und ihren Geschwistern fühlen konnte. Es war schockierend, ehrlich und emotional. So aufrüttelnd und nachvollziehbar, dass ich ganz gefangen in der damaligen Zeit war. Sabiha hatte immer nur den Willen selbst zu bestimmen und doch lag es in ihrer Familie nicht ferner, diesem Wunsch nachzukommen.
Eine beeindruckende Staatsanwältin
Frida ist willensstark und mutig, unermüdlich und kämpferisch. Sie gibt nicht auf, nur weil ihr Steine in den Weg gelegt werden oder sie auf schweigende Wände trifft. Im Gegenteil, sie ist so hartnäckig, dass sie sich selbst in ihrer Freizeit den Kopf über die Hintergründe zerbricht. Der Fall begleitet sie bis nach Hause, lässt sie nicht mehr los und wühlt sie innerlich auf.
Ich fand es spannend, in ihre Gedanken einzutauchen und ihre Hilflosigkeit zu spüren. Sie möchte den Angehörigen mehr als alles andere helfen und bekommt dafür nur Misstrauen zu spüren. Ich habe selten so verschlossene Menschen getroffen, die sich weigern über ihre Familie zu sprechen. Selbst wenn das bedeutet, die Ermittlungen zum Erliegen zu bringen und dass der Angreifer nicht gefunden wird.
Fehlender Abschluss?
Was ich schade fand war, dass der eine Fall aufgeklärt wurde und auch die Motive ans Licht kamen, aber das Buch abrupt endete. Der zweite Fall wurde angegangen und ermittelt, es wurden Hinweise gestreut und Geheimnisse entdeckt. Aber wie es nun weiter ging, ob beide Taten in Verbindung standen oder nicht, was genau passiert ist - das alles bleibt offen. Ich habe fast ein dreiviertel des Buches in der Familiengeschichte verbracht und es hätte mich interessiert, wie es in der Familie weiter geht und wie sie mit dieser Tragödie umgehen. Wie sie auf die Situation reagieren, was es mit ihnen macht.
Natürlich kann nicht alles aufgeklärt werden, so ist es im echten Leben leider auch. Aber ich hätte mir gewünscht, dass die Thematik des zweiten Falles noch einmal aufgegriffen wird und zu einem Abschluss kommt. Sei es nun positiv oder negativ.
Fazit: In »Tradition Mord« greift Sarah Kessler ein brisantes und wichtiges Thema auf: Ehrenmorde. Sie beleuchtet die Thematik von zwei Seiten: Die des Familiendramas, die sich in Geheimnissen verstrickt, die lieber schweigt und alles unter den Teppich kehrt. Und die Seite, die von Außen auf das Geschehen schaut, die ermittelt und die Hintergründe erfragt. Es ist so viel mehr als ein Kriminalroman. Es ist ein aufrütteln und hinterfragen. Eine emotionale Fahrt. Eindringlich, schockierend, gefühlvoll.
Beim nächsten #blogger_innensonntag am 13. Oktober geht es um: Warum Vernetzung wichtig ist
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